Mit dem Titel „Landesbeste in den Alten Sprachen“ darf sich seit dem 5. Mai 2021 die Abiturientin Anisja Mayr, Schülerin des C-Profils der Jahrgangsstufe 13 am Ratsgymnasium Goslar, schmücken. Anisja hatte sich dem renommierten Landeswettbewerb „Rerum antiquarum certamen“, der im Zweijahresturnus für die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe stattfindet, zunächst mit einer Übersetzungsklausur aus dem Lateinischen, dann mit einer fünfzigseitigen Hausarbeit gestellt. Unabhängige Gutachter des Landes Niedersachsen hatten ihre Hausarbeit mit der Bestnote „15 Punkte“ bewertet. Anisja reiht sich mit ihrem Erfolg in die Zahl der Ratsgymnasiasten ein, die seit mittlerweile zwölf Jahren in ununterbrochener Folge als Landesbeste aus dem Wettbewerb hervorgingen. Ihre herausragende Leistung bescherte ihr die Fahrkarte nach Wolfenbüttel, wo sie vom 17. bis zum 19. Juni mit elf weiteren Landesbesten um die Aufnahme in die Studienstiftung des Deutschen Volkes wetteifern wird.
In ihrer Hausarbeit beschäftigte sich Anisja mit den Empfehlungen für ein glückliches Leben, die der römische Philosoph Seneca seinem Freund Lucilius um das Jahr 62 n. Chr. in zahlreichen literarischen Briefen, den Epistulae morales ad Lucilium, gab. Nach der stoischen Lehre, die Seneca vertritt, fußt das glückliche Leben auf Sicherheit und dauerhafter Gemütsruhe, die durch äußere Faktoren wie z.B. Krankheit oder Schicksalsschläge nicht zu erschüttern sind. Erreichbar sind Sicherheit und Gemütsruhe dadurch, dass der Mensch seine Vernunftnatur vervollkommne. Dazu solle er sich beständig der Philosophie widmen; so werde er in den Stand gesetzt, auch unerwarteten und schwierigen Lebenssituationen gefasst ins Auge zu blicken.
Bereits dieser kurze Abriss lässt vermuten, dass sich die Beschäftigung mit Senecas philosophischen Briefen nicht darin erschöpft, eine längst versunkene Ideenwelt ans Tageslicht zu fördern, sondern dass seine Empfehlungen es verdienen könnten, auf ihren aktuellen Wert zumindest überprüft zu werden. Und welcher Prüfstein läge da zurzeit näher als die Corona-Pandemie? Und so setzte sich Anisja in ihrer Hausarbeit mit den Fragen auseinander, inwiefern Senecas Empfehlungen als Strategien für die Menschen taugen, um die mit der Pandemie einhergehenden Probleme zu bewältigen, und ob, andersherum betrachtet, Corona möglicherweise gar eine Chance auf ein glücklicheres Leben bieten könne.
Um auf diese Fragen eine Antwort geben zu können, erarbeitete Anisja nicht nur dezidiert Senecas Empfehlungen für ein glückliches Leben und erörterte deren Tauglichkeit für unterschiedlich von der Pandemie betroffene Bevölkerungsgruppen, wie z.B. Mitarbeiter im Gesundheitswesen oder psychisch erkrankte Menschen, sondern widmete sich auch den Briefen, in denen Seneca seinem Freund das Abstandhalten von der großen Menge nahelegt und dessen soziales Anschlussbedürfnis durch den Umgang mit nur wenigen Gleichgesinnten befriedigt sehen möchte. „Stay at home“ und „Social distancing“ als Schlagworte der Pandemie-Bekämpfung also schon bei Seneca? Nicht so ganz, aber doch in einem übertragenen Sinne: Wie das Virus auf den noch nicht Geimpften überspringt, wenn er den nötigen Sicherheitsabstand zu einem Infizierten nicht wahrt, so unterliegt der Mensch, der seine Vernunft noch nicht vervollkommnet hat, der Gefahr, bei Kontakten mit der breiten Masse von deren affektgeleitetem Denken infiziert zu werden.
Und genau an dieser Stelle, im Gegensatz zwischen der breiten Masse und den philosophisch zumindest Bewanderten, für die der Adressat Lucilius als Stellvertreter fungiert, ist der Grund dafür zu finden, dass Senecas Empfehlungen für ein glückliches Leben für Großteile der Bevölkerung in Pandemie-Zeiten nicht greifen: Alles in allem – so das Ergebnis von Anisjas Untersuchung – hätten unter Corona die Chance auf ein glücklicheres Leben nur die Wenigen, die im Sinne Senecas entweder bereits vorher „weise“ gewesen oder auf dem Weg zur „Weisheit“ zumindest ein gutes Stück vorangekommen seien; nur sie profitierten von der Entschleunigung, nur ihnen könne die Corona-Zeit die Gelegenheit zu weiterer innerer Einkehr bieten, nur sie könnten diese für das Streben nach der vervollkommneten Vernunft nutzen, da sie sich von ihren Affekten, wie z.B. der Furcht, bereits entfernt hätten. An den Bedürfnissen aller anderen liefen Senecas Empfehlungen dagegen vorbei, nicht zuletzt deshalb, weil sie deren äußere und innere Belastungsfaktoren gerade in der Corona-Zeit unterschätzten.
Aktuell anzulasten ist das Seneca freilich nicht, schrieb er als Intellektueller, der der römischen Oberschicht angehörte, doch für seinesgleichen, d.h. für den Kreis der philosophisch Gebildeten oder zumindest Interessierten und damit in der Regel auch ökonomisch Privilegierten, die ihre ausgedehnte Mußezeit mit philosophischen Betrachtungen füllen konnten. Lesens- und bedenkenswert sind seine Empfehlungen allemal.
Anisja hat mit ihrer Arbeit einen wesentlichen Beitrag zum Ansehen der Alten Sprachen am Ratsgymnasium geleistet. Wir gratulieren ihr zu dem großartigen Erfolg und drücken ihr für die Endrunde in Wolfenbüttel die Daumen.
Nicht unerwähnt bleiben sollen an dieser Stelle vier weitere Oberstufenschülerinnen des Ratsgymnasiums, die ebenfalls an der zweiten Runde des Wettbewerbs teilnahmen und diese erfolgreich abschlossen: aus der Jahrgangsstufe 13 Xenia Mayr, Elisa Mertens und Buse Karakoc, aus der Jahrgangsstufe 12 Christin Bauer.
Für die Fachgruppe Alte Sprachen
Dr. Ruth Mariß