Griechischschülerinnen und -schüler der Jahrgangsstufe 12 erlebten im Staatstheater Braunschweig Sophokles´ Tragödie Antigone

Das Wort tyrannos bezeichnete im antiken Griechenland zunächst denjenigen, der eine weitgehend unumschränkte Alleinherrschaft ausübte. Erst mit dem 5. Jahrhundert v. Chr. erhielt der Begriff seine abwertende Bedeutung: tyrannos war nun der Herrscher, der die alleinige Macht willkürlich, unterdrückerisch und rücksichtslos ausübte.
Inwiefern diese Wesensmerkmale eines Tyrannen auch auf Figuren des griechischen Mythos zutreffen, konnten die Schülerinnen und Schüler des Griechischkurses der Jahrgangsstufe 12 zusammen mit ihrer Kurslehrerin Frau Dr. Mariß am 12. Juni 2025 erleben: Die Aufführung von Sophokles´ Tragödie Antigone im Staatstheater Braunschweig brachte mit Kreon, dem Herrscher über die Stadt Theben, einen tyrannos auf die Bühne, der das durch ihn verkörperte staatliche Recht mit unerbittlicher Härte durchsetzt: Er verhängt ein Bestattungsverbot für die Leiche des Landesverräters Polyneikes und kündigt für die Übertretung dieses Verbotes die Todesstrafe an. Das provoziert die Opposition von Polyneikes´ Schwester Antigone: Sie vertritt den Anspruch des göttlichen Rechts, bestattet ihren Bruder, indem sie den alten religiösen Riten entsprechend sein Gesicht mit Sand bedeckt, und wird für ihre Tat erwartungsgemäß mit dem Tod bestraft.
Doch die Aufführung der Tragödie hatte mehr zu bieten als den Konflikt zwischen staatlichem Gesetz und göttlichem Recht und die Rebellion gegen staatliche Gewalt unter dem Risiko des eigenen Untergangs. So setzte die Inszenierung einen Akzent darauf, dass Antigone gleich mehrere Konflikte mit Kreon austrägt: Sie übertritt nicht nur dessen Bestattungsverbot, sondern akzeptiert auch die ihr zugedachte Rolle als Frau nicht, indem sie sich dem Mann Kreon nicht unterordnet und aktiv in das politische Geschehen eingreift. Dass beide, Kreon und Antigone, in ihren Überzeugungen gefangen sind und ihre Ziele mit größter Unnachgiebigkeit verfolgen, führt letztlich zu einem katastrophalen Ausgang für alle Beteiligten: Antigone stirbt in der Felsengruft, ihr Verlobter Haimon, Kreons Sohn, nimmt sich daraufhin das Leben, Kreon erkennt zu spät, was seine Sturheit angerichtet hat, und bleibt als gebrochener Mann, der gar nicht mehr tyrannisch wirkt, auf der Bühne zurück.
Jörg Wesemüller inszenierte das 2500 Jahre alte Stück auf der Basis von Roland Schimmelpfennigs gekonnter Neuübertragung, die nahe am griechischen Originaltext bleibt. Der gelegentliche Einsatz moderner Requisiten wirkte, von den Kopfhörern abgesehen, insgesamt organisch, sporadische verbale Flapsigkeit durchbrach manchmal wohltuend, manchmal störend die Ernsthaftigkeit des tragischen Geschehens.
Insgesamt bot die Aufführung den Griechischschülerinnen und -schülern eine gute Möglichkeit, eine griechische Tragödie auf der Bühne zu erleben. Schließlich hatten sie im laufenden Semester Euripides´ Medea gelesen, in der sich die zentrale Frauengestalt ebenfalls gegen einen Mann zur Wehr setzt, der einen gleichsam tyrannischen Machanspruch erhebt: Jason, der aus machtpolitischem Kalkül die Ehe mit Medea bricht, um Krëusa, die Tochter des korinthischen Königs, zu heiraten, wofür Medea ihn damit bestraft, dass sie die beiden gemeinsamen Kinder tötet. Somit verlässt am Ende auch in dieser Tragödie niemand als Sieger die Szene.
Dr. Ruth Mariß
Vorsitzende der Fachgruppe Alte Sprachen