Vitruv und die römische Idee von der „healthy city“
Ungefähr 2000 Städte umfasste das Gebiet des Römischen Reiches. Von ihnen war Rom die bei Weitem größte: Zur Zeit des Kaisers Augustus lebte etwa eine Million Menschen in der Stadt am Tiber. Doch der gewaltige Zustrom in das caput orbis, die Hauptstadt der Welt, hatte zu räumlicher Enge und unkontrollierter Bebauung geführt, die Probleme nach sich zogen: schnell um sich greifende Brände, mangelhafte Wasserversorgung, unhygienische Lebensbedingungen. Dagegen ergriff der Kaiser zwar durchaus Maßnahmen, sein Zeitgenosse, der Ingenieur und Architekt Vitruv, dachte aber radikaler: Man müsse das Problem einer ungesunden Stadt bei der Wurzel packen, indem man bereits für deren Gründung einen gesunden Ort auswähle, lautet die Empfehlung, die er in seinem Werk De architectura gibt. Um die Probleme im über Jahrhunderte gewachsenen Rom zu lösen, kam diese freilich zu spät. Aber fanden Vitruvs Ideen vielleicht Berücksichtigung bei der Neugründung von Städten im weiter expandierenden Römischen Reich? Oder eignen sie sich sogar heute noch als Orientierungshilfe bei der Schaffung einer „healthy city“?
Der Beantwortung dieser Fragen stellte sich jüngst Leonie Rausche, Schülerin der Jahrgangsstufe 13, in einer 30-seitigen Hausarbeit, die sie im Rahmen der zweiten Runde des niedersächsischen Landeswettbewerbs Rerum Antiquarum Certamen anfertigte. „Die Ingenieurskunst des Römischen Reiches: Lehren für moderne Stadtplanung und Infrastrukturentwicklung“, so lautete das Thema, das Leonie aus dem vom Veranstalter vorgegebenen Themenpool zur Bearbeitung auswählte. Um es vorwegzunehmen: Das Ergebnis, das Leonie mit ihrer Arbeit erzielte, kann sich wahrlich sehen lassen, denn Gutachter des Niedersächsischen Altphilologenverbandes bewerteten ihren Aufsatz mit der Bestnote 15 Punkte, sodass sich Leonie jetzt verdient „Landessiegerin in den Alten Sprachen“ nennen darf. Schon in der ersten Runde hatte sie bei einer Übersetzungsklausur aus dem Lateinischen geglänzt.
Mit ihrem Urteil würdigten die Gutachter die inhaltliche Fülle, die gedankliche Tiefe und die Eigenständigkeit von Leonies Hausarbeit. So zeigte Leonie zum Beispiel, dass Vitruv den gesunden Standort der idealen Stadt geradezu als Gegenbild zum realen Rom entwirft: Seinen Forderungen nach einer erhöhten Lage, der Abwesenheit von Sümpfen, gemäßigten Temperaturen und guten Voraussetzungen für den Nahrungsmittelanbau widersprach die Stadt am Tiber nämlich von Grund auf. Auch führte Leonie gegen etablierte Forschungsmeinungen den Nachweis, dass die bisweilen fehlende Präzisierung der Kriterien für eine gesunde Stadt keine Schwäche, sondern eine Stärke von Vitruvs Entwurf sei: Auf diese Weise erstelle der Autor eine Art grober Checkliste für die geeignete Lage, die den Planern vor Ort die nötige Flexibilität für Stadtgründungen im expandierenden Römischen Reich biete.
Doch inwieweit nahmen diese das Angebot an? Das überprüfte Leonie anhand der Gründung der colonia Augusta Treverorum, aus der sich das heutige Trier entwickelte. Das Ergebnis dürfte Vitruv wohl nicht gefallen haben: Weder die Höhe noch die natürlichen klimatischen Bedingungen und auch nicht der allseitige Schutz durch Stadtmauern, die zu einem ungünstigen Anstieg der Temperaturen innerhalb der Stadt führten, entsprachen seinen Vorgaben. So waren für die Anlage der colonia Augusta Treverorum offensichtlich weniger die von Vitruv geforderten gesundheitlichen Standards ausschlaggebend, schlussfolgerte Leonie, als die für ein militärisches Zentrum strategisch günstige Lage an der Mosel. Dass das Kriegführen bei den Römern höchste Priorität genoss, wusste Vitruv übrigens selbst, denn er hatte einst Belagerungsmaschinen für das römische Heer gebaut.
Dass die Welt im 21. Jahrhundert zunehmend unter den Folgen des Klimawandels zu leiden haben werde, konnte Vitruv dagegen nicht einmal ahnen. Umso mehr erstaunt die diesbezügliche Aktualität seiner Empfehlungen, die Leonie anschließend nachwies: ein kühler Standort der Stadt gegen die ansteigenden Temperaturen, ein durchdachtes System von Abwasserkanälen gegen die zunehmenden Starkregenereignisse, natürliche und künstliche Abflussmöglichkeiten von Dämpfen gegen die wachsende Schadstoffbelastung der innerstädtischen Luft.
Doch greifen Vitruvs Empfehlungen heute tatsächlich noch? Grundlegend nur dann, wenn es um Neugründungen von Städten geht, weil seine Kriterien für eine „healthy city“ in erster Linie als präventiver Ansatz zu bewerten sind, lautet Leonies Ergebnis. Und solche Stadtneugründungen gebe es heutzutage in unseren Breiten ja nicht mehr. Ist die aktuelle Auseinandersetzung mit dem „alten“ Römer Vitruv also letztendlich wertlos? „Keinesfalls“, ist sich Leonie sicher, denn Vitruvs Ideen seien auch bei der Umgestaltung existierender Städte nützlich. So finde sich etwa in seiner Empfehlung, kühlende Baustoffe zu verwenden, die Hitzedämmung von Hausfassaden, ein großes Thema unserer Tage, geradezu vorgedacht. Beinahe scheint es so, als könnte der Klimawandel Vitruv die Anerkennung für seine gesunde Stadt bescheren, die ihm zu Lebzeiten versagt blieb. Auf diesen angesichts der aktuellen Misere zweifelhaften Erfolg hätte der Römer aber sicherlich gerne verzichtet.
Mit ihrer großartigen Leistung reiht sich Leonie in die Zahl der Schülerinnen und Schüler des Ratsgymnasiums ein, die seit mittlerweile acht Durchgängen in ununterbrochener Folge als Landesbeste aus dem Wettbewerb hervorgingen. In der dritten Runde, die vom 12. bis zum 14. Juni in Wolfenbüttel stattfindet, wird sie mit elf weiteren Landessiegerinnen und -siegern um die Aufnahme in die Studienstiftung des Deutschen Volkes wetteifern. Wir gratulieren Leonie zu ihrem bereits jetzt überragenden Erfolg und drücken ihr für die Endrunde die Daumen.
Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle ein weiterer Schüler der Jahrgangsstufe 13, der an der zweiten Runde des Wettbewerbs teilnahm und diese erfolgreich absolvierte: Tobias Bockelmann.
Für die Fachgruppe Alte Sprachen
Dr. Ruth Mariß, OStR´
