Schülerinnen und Schüler der Klassen 6a und 6c erkunden historische Inschriften
Als traditionelles Unterrichtsfach, als Sprache der europäischen Kultur und der Wissenschaften und – profaner – als Wortlieferant für clevere Produktwerbung unserer Tage ist das Lateinische allgemein bekannt. Dass sich die Sprache der Römer aber auch im direkten räumlichen Umfeld des Ratsgymnasiums findet, und das in großer Fülle, ist den meisten weniger bewusst. Das dürfte sich für zwanzig Lateinschülerinnen und -schüler der Klassen 6a und 6c inzwischen allerdings geändert haben. Denn zusammen mit ihrer Lehrerin Dr. Ruth Mariß begaben sie sich am Montag, dem 29. Januar, auf Erkundungstour und sichteten an zahlreichen Goslarer Häusern Inschriften in lateinischer Sprache. Besonders ergiebig waren dabei Gebäude in der Jakobistraße und der Schilderstraße und damit ein Terrain, das sich in unmittelbarer Nähe der Schule als Ziel für eine Exkursion auf kurzen Wegen unbedingt empfahl.
Die Inschriften, die die Schülerinnen und Schüler auf Schwellbalken und Torstürzen der Häuser aus dem 16. und frühen 17. Jahrhundert entdeckten, legen einerseits Zeugnis davon ab, dass ihre protestantischen Bauherren ihrer Zuversicht in Gott sichtbaren Ausdruck verleihen wollten, wie z.B. am Haus Jakobistraße Nr. 7: DEUS OMNIA PROVIDEBIT. QUI CREDIT, HABEBIT („Gott wird für alles sorgen. Wer glaubt, wird besitzen“); andererseits sind sie Ausdruck des Repräsentationswillens, manchmal auch des hohen Bildungsgrades der Bauherren. Dass der eigene Anspruch und die Wirklichkeit schon damals nicht immer übereinstimmten, zeigt das fehlerhafte Zitat aus dem Werk des römischen Dichters Ovid am Haus Jakobistraße Nr. 23: FLOEBILE PRINCIPIUN MELIOR FORTUNA SEQUUTA EST („Auf einen traurigen Anfang folgte ein besseres Schicksal“). Schön anzuschauen waren die goldfarbenen Buchstaben auf blauem Grund trotzdem. Von der erklärten Absicht eines Bauherrn, Gästen eine friedvolle Zeit in seinen vier Wänden zu bescheren und ihnen beim Abschied alles Gute für die Zukunft zu wünschen, konnten sich die Lernenden am Sturz des Dielentores des Hauses Schilderstraße Nr. 23 überzeugen: PAX INTRANTIBUS, SALUS EXEUNTIBUS („Friede den Eintretenden, Heil den Hinausgehenden“). Diese Worte wären in leichter Abwandlung – „Bildung“ statt „Friede“ – übrigens auch ein passendes Motto für das Ratsgymnasium, hier natürlich weniger an Gäste adressiert als an die in die Schule eintretenden und sie nach neun Jahren verlassenden Schülerinnen und Schüler.
Doch das Ratsgymnasium hat bereits seinen lateinischen Wahlspruch, auch wenn dieser nicht als Inschrift im engeren Sinne gelten darf; bedenkenswert ist er allemal, weil er darauf aufmerksam macht, dass der Einzelne nicht um seiner selbst willen auf der Welt ist, sondern um Verantwortung für die Menschengemeinschaft zu tragen: Non nobis solum, sed toti mundo nati („Nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt sind wir geboren“) steht auf dem Schild, das sich auf dem Schulgelände an der Unteren Schildwache befindet. Die Bedeutung des Mottos, das in Teilen auf den römischen Politiker und Schriftsteller Cicero zurückgeht, der es seinerseits vom griechischen Philosophen Platon übernommen hat – was wären die Römer ohne die Griechen? –, erfassten die mit dem Leitbild des RG wohlvertrauten Schülerinnen und Schüler treffsicher.
Während der ganzen Exkursion fotografierten sie, was das Smartphone hielt, sodass in der folgenden Lateinstunde viele Bilder ausgewertet und zahlreiche Inschriften ins Deutsche übersetzt werden konnten. Dass die Lernenden, die erst am Anfang des Lateinunterrichts stehen, dafür die eine oder andere Vokabelhilfe benötigten, war einkalkuliert und schmälerte ihren Stolz auf das Entdeckte und Verstandene nicht. Die römischen Zahlzeichen, die den Haupteingang des Ratsgymnasiums zieren und das Baujahr des Altbaus angeben, entzifferten sie – dem Mathematikunterricht sei Dank! – dagegen höchst selbstständig.
Das Unterrichtsziel der Exkursion, die lateinische Sprache als sichtbares und so noch immer lebendiges Zeugnis der Goslarer Baugeschichte zu begreifen, wurde auf jeden Fall erreicht. Wenn die Schülerinnen und Schüler darüber hinaus verstanden hätten, dass sie die lateinische Sprache nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch wegen ihres praktischen Nutzens lernen, wäre das ein nicht unbeabsichtigter Nebeneffekt. Oder ist das Entschlüsseln lateinischer Inschriften etwa nicht nützlich?
Dr. Ruth Mariß, Fachobfrau Alte Sprachen