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Laura Meese-Marktscheffel Landesbeste in den Alten Sprachen 2022/2023

Apollo und die schöne Nymphe – ein liebestoller Gott auf der Anklagebank

Antike Mythen sind zeitlos. Das macht einen Teil ihrer Attraktivität aus. So spiegeln sie auch heutzutage richtiges und falsches Verhalten wider. Das heißt natürlich nicht, dass die Beurteilung dessen, was richtig und was falsch ist, in den letzten 2000 Jahren unverändert geblieben wäre. Wenn der römische Dichter Ovid in seinem Werk Metamorphosen, einer Sammlung von rund 250 Verwandlungssagen, mit großer Darstellungsfreude auch solche Geschichten erzählt, in denen männliche Götter gegenüber schönen Nymphen übergriffig werden, verdienen diese in Zeiten eines reformierten Sexualstrafrechts zumindest eine kritische Überprüfung, auch wenn oder gerade weil sie etablierter Gegenstand des Lateinunterrichts sind.

Dieser Aufgabe stellte sich jüngst Laura Meese-Marktscheffel, Schülerin der Jahrgangsstufe 12, in einer 40-seitigen Hausarbeit, die sie im Rahmen der zweiten Runde des niedersächsischen Landeswettbewerbs Rerum Antiquarum Certamen anfertigte. „Apoll unter Anklage – Das Verhalten Apolls gegenüber Daphne aus strafrechtlicher Sicht unter Berücksichtigung der Sexualstrafrechtsreform von 2016“, so lautete das Thema, das Laura aus dem vom Veranstalter vorgegebenen Themenpool zur Bearbeitung auswählte. Um es vorwegzunehmen: Das Ergebnis, das Laura mit ihrer Arbeit erzielte, kann sich wahrlich sehen lassen, denn Gutachter des Niedersächsischen Altphilologenverbandes bewerteten ihren Aufsatz mit der Bestnote 15 Punkte, sodass sich Laura jetzt verdient „Landesbeste in den Alten Sprachen“ nennen darf. Schon in der ersten Runde hatte sie bei einer Übersetzungsklausur aus dem Lateinischen geglänzt.

Mit ihrem Urteil würdigten die Gutachter die inhaltliche Fülle, die gedankliche Tiefe und die Eigenständigkeit von Lauras Hausarbeit. Diese Qualitäten zeigten sich unter anderem daran, dass Laura den Text aus zahlreichen selbst gewählten Blickwinkeln gründlich in Augenschein nahm. So wies sie zum Beispiel durch den Vergleich mit anderen Verwandlungsgeschichten nach, dass die Erzählung von Apollo und Daphne einem typischen Handlungsmuster liebestoller Götter und sich verweigernder Nymphen folgt, wie es von Ovid als sozusagen dichtendem Wiederholungstäter mehrfach ausgeführt wird: Apollo entbrennt in Liebe zur schönen Daphne, die sich in ländlicher Abgeschiedenheit ihres jungfräulichen Daseins erfreut; sie weist den göttlichen Verehrer ab, widersteht seinen Überredungskünsten und versucht seinem körperlichen Drängen durch Flucht zu entkommen; kurz bevor der Liebestolle sie im Lauf einholen kann, bittet sie einen ihr gewogenen Gott, ihren Vater, um Hilfe, um sich vor dem drohenden Zugriff zu retten; dieser erfüllt die Bitte, indem er sie verwandelt, und zwar in einen Lorbeerbaum.

Ende gut, alles gut? Keinesfalls. Denn Laura zeigte durch eine umfassende rhetorische und psychologische Analyse des Textes, dass Daphne trotz ihrer Verwandlung als Verliererin aus der Geschichte hervorgeht, und das nicht nur, weil sich Apollo letztlich ihrer doch noch bemächtigt, indem er den Lorbeer kurzerhand zu dem ihm heiligen Baum erklärt. So enthüllte Laura, in welch hohem Maße Daphne nach heutigem Verständnis Opfer von Apollos triebgesteuerter Unmoral ist: Dem Gott, der die junge Frau ganz auf ihre optische Erscheinung reduziert, geht es ausschließlich um die Befriedigung seiner eigenen Begierde; dafür setzt er verschiedene Manipulationstechniken ein, indem er sich teils mit großem Imponiergehabe als mächtige und heroische Gestalt, teils Mitleid heischend als Opfer einer ungerechtfertigten Zurückweisung darstellt; sein zunächst geäußertes Verständnis für Daphnes Furcht und Hilflosigkeit ist nur vorgetäuscht; sein wahres Gesicht zeigt er, als er seine physische Überlegenheit zum Einsatz bringt und sein wehrloses Opfer wie ein Raubtier seine Beute durch die einsame Landschaft hetzt. Letzten Endes ist die Nymphe sogar selbst davon überzeugt, dass ihre Schönheit und nicht Apollo der Grund für ihre missliche Lage sei. Apollos Strategie der Schuldumkehr hat also funktioniert.

Doch Triebhaftigkeit, Manipulation und Nachstellung sind nicht per se gesetzeswidrig. Und so widmete sich Laura anschließend der für ihre Untersuchung zentralen juristischen Fragestellung. Nun überprüfte sie, inwiefern Apollos Handlungen heutzutage strafbar wären – in der römischen Antike hätte man aus rechtlicher Sicht keinen Anstoß an ihnen genommen –, indem sie diese mit den Bestimmungen des 2016 reformierten Sexualstrafrechts verglich. Während nach der alten Rechtsprechung eine Sexualstraftat erst dann vorlag, wenn Gewalt gebraucht oder angedroht wurde, ist nach der neuen Rechtslage (§ 177 StGB) eine sexuelle Handlung schon strafbar, wenn sie gegen den erkennbaren Willen einer Person vorgenommen wird. Überzeugend konnte Laura am Text belegen, dass sich Apollo absichtlich über Daphnes erkennbaren Willen, ihr „Nein-heißt-Nein“, hinwegsetzt und dass er sich weiterer rechtswidriger Taten schuldig macht: So ist sein Handeln juristisch als versuchte Vergewaltigung zu bewerten, außerdem nutzt er Daphnes schutzlose Lage aus und fügt ihr indirekt schweren körperlichen Schaden zu, denn durch die Verwandlung büßt sie ihre Bewegungsfähigkeit und ihre Stimme ein.

Dass es Laura darum ging, ein gerechtes Urteil über Apollo zu fällen, zeigte sie durch die kluge Abwägung etwaiger mildernder Umstände: Schließlich hat ein Pfeil des Gottes Amor das Liebesverlangen in Apollo ausgelöst, sodass er sich in einer Art Rauschzustand befindet, der seine volle Schuldfähigkeit zumindest infrage stellt. Die Beteiligung Amors hätte auf der anderen Seite eine gemeinschaftlich begangene Tat nahelegen können, was das Strafmaß erhöht hätte, doch ließ sich diese nicht einwandfrei beweisen, also: im Zweifel für den Angeklagten. Und dennoch: Wäre Apollo nicht eine Figur aus dem antiken Mythos, sondern ein Mann aus Fleisch und Blut, lebte dieser nicht im antiken Rom zur Zeit des Kaisers Augustus, sondern hier und heute, würde er zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Denn der Richterspruch, den Laura nach ihrer Beweisführung fällte, lautete: schuldig in vier von fünf Anklagepunkten.

Sollte ein solcher Text, der das sensible Thema der versuchten Vergewaltigung behandelt, aber im Jahr 2023 noch Gegenstand des Lateinunterrichts sein? Laura plädierte uneingeschränkt dafür: „Auf jeden Fall!“, hieß ihre Empfehlung. Denn die Geschichte verlaufe insgesamt relativ harmlos und biete vor allem wichtige Anstöße, um Schülerinnen und Schüler auf Formen sexueller Gewalt gestern und heute aufmerksam zu machen. Dass es dabei auch darum gehen sollte, Ovid als Kind seiner Zeit und seinen Text als Spiegel der zeitgenössischen Lesererwartung an ihn, den gefeierten Liebesdichter, zu begreifen, versteht sich von selbst. Schließlich ist für die ethische Kommunikation, eines der übergeordneten Ziele des Lateinunterrichts, zunächst die historische Kommunikation nötig.

Mit ihrer großartigen Leistung reiht sich Laura in die Zahl der Schülerinnen und Schüler des Ratsgymnasiums ein, die seit mittlerweile sieben Durchgängen in ununterbrochener Folge als Landesbeste aus dem Wettbewerb hervorgingen. In der dritten Runde, die vom 15. bis zum 17. Juni in der Tagungsstätte Loccum stattfindet, wird sie mit elf weiteren Landesbesten um die Aufnahme in die Studienstiftung des Deutschen Volkes wetteifern. Wir gratulieren Laura zu ihrem bereits jetzt überragenden Erfolg und drücken ihr für die Endrunde die Daumen.

Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle eine weitere Schülerin der Jahrgangsstufe 12, die die zweite Runde des Wettbewerbs ebenfalls erfolgreich absolvierte: Lena Dege.

Für die Fachgruppe Alte Sprachen

Dr. Ruth Mariß, OStR´